Lukas Wegmüller Lukas Wegmüller

Wer bei Gaza wegschaut, sägt am Ast der Demokratie

Wenn ich mit Menschen über das Thema Gaza spreche, dann wirkt es wie eine schwärende Wunde: Viele wissen, dass das, was die Regierung Netanyahu in Gaza tut, falsch und absolut verwerflich ist. Aber es macht sie sprachlos, es fehlen ihnen die Worte und sie wissen nicht, was sie tun können. Weil es so weit weg ist, so kompliziert, so brutal. Weil es schwierig ist, Empathie zu empfinden für etwas, wofür wir keine Worte haben. Weil es schwierig ist, die eigene Hilflosigkeit auszuhalten. Weil das Ausmass des Unrechts, der Gewalt, der Zerstörung so unermesslich ist, dass jeder Widerspruch nichtig wirkt, zu spät und zu wenig und zu leise und zu unbedeutend.  

Es gibt aber noch ein anderes Element: Täglich schauen wir zu, wie unsere Werte von Menschen verraten werden, von welchen wir dachten, dass wir einen Wertekanon mit ihnen teilen. Wir sehen, wie unser Bundesrat einfach zuschaut, wie die Menschen in Gaza wie im Mittelalter ausgehungert werden. Wir sehen, wie die EU Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einfach zuschaut. Wir sehen, wie der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Aussenministerin Annalena Baerbock und Joe Biden einfach zugeschaut haben. Wir sehen, wie so viele Menschen, deren Nein lauter wäre als unser eigenes, die in anderen Zusammenhängen gerne «Nie wieder!»-Parolen verbreiten, die Einfluss nehmen könnten auf die Entscheidträger:innen in Israel, wie so viele dieser Menschen einfach nur zuschauen. Und ihr Zuschauen lässt die meisten Menschen wegschauen, macht dieses Wegschauenkönnen überhaupt erst möglich.

Mit diesem Zuschauen und Wegschauen steht das Leben von zwei Millionen Menschen auf dem Spiel. Wir schaffen damit aber auch einen extrem gefährlichen Dammbruch: Wenn das live gestreamte Ausbomben und Aushungern dieser Menschen, davon die Hälfte Kinder, keinen Aufschrei mehr bewirkt, was dann? Wenn Bilder von Kindern, die in den Trümmern ihres einstigen Zuhauses nach ihren toten Familienmitglieder suchen, uns nicht mehr berühren, was dann? Dann ermuntern wir die Autokraten und ihre Handlanger von Amerika bis in die Türkei, von China bis El Salvador, von Russland bis Sudan dazu, ebenfalls auszutesten, was möglich ist. Ebenfalls in diesen verschobenen Grenzen ihre mörderische Agenda umzusetzen, ohne befürchten zu müssen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Denn sie sehen ja: Die Welt dreht sich einfach weiter.

Aus dem Vietnamkrieg gibt es Bilder, die bis heute als Mahnmal dienen und in den USA dazu geführt haben, dass der Druck auf die Regierung, diesen Krieg endlich zu beenden, immer stärker gestiegen ist. Mit Blick auf Gaza ist dieser Druck bei den Verbündeten Israel sehr gering. In Israel selber gibt es immer wieder grosse Proteste, aber auch dort reicht der Druck bei Weitem nicht aus, tragen viel zu viele Menschen die Taten der Regierung Netanyahus mit.

Der Nahostkonflikt ist alt, verworren, von vielfältigen Interessen und Dynamiken beeinflusst und historisch, kulturell und wirtschaftlich stark mit der Geschichte und den Interessen vieler westlicher und arabischer Länder verzahnt.

Aber er ist nicht kompliziert mit Blick auf Völkerrecht und Menschenrechte. Das Völkerrecht hat Regeln aufgestellt, an die sich die Staatengemeinschaft zu halten hat. Das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte haben einen Massstab festgelegt, um auch in einem Konflikt die Würde des Einzelnen zu schützen und die grundlegensten Werte der Humanität zu wahren. Die Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht und der Menschenrechte gelten dabei für alle beteiligten Akteure, für die Hamas wie auch die Regierung Netanyahu. Und das Nichteinhalten der einen Seite ist keine Entschuldigung, dass sich die andere Seite auch nicht dran hält. In vielen Fällen ist es sehr wohl möglich festzustellen, wer welche Verletzung begangen hat bzw. begeht, sowohl auf palästinensischer wie auch israelischer Seite. Das galt für die Kriege und Ereignisse vor dem 07. Oktober 2023, dem Überfall vom 07. Oktober selber wie auch allem, was seither folgte.

Das System des Völkerrechts, des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte wäre der nach wie vor geltende Massstab dafür. Doch gleichzeitig wie das System erodiert, weil wir Zuschauen und Wegschauen, wird es von Autokraten wie Trump, Putin, Xi Jinping, Orban, Netanyahu, der Hamasführung und vielen Weiteren angegriffen. Umso mehr sind wir darauf angewiesen, dass wir es umso entschiedener verteidigen.

Im Fall von Gaza nicht, weil wir „propalästinensisch“ sind. Sondern weil wir pro Menschen- und Völkerrecht, weil wir anti ethnischer Säuberungen (das Thema Genozid überlasse ich Juristinnen und Juristen). Und weil die Verteidigung von Menschen- und Völkerrecht direkt verbunden ist mit der Verteidigung unserer Demokratien gegen Autokraten und Faschistinnen.

Weiterlesen